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Allen Deutschen zum Nachdenken und zur weiteren Verbreitung [] insbesondere [] Den Betriebsleitern zum Umlauf unter der Belegschaft [] Den Redaktionen zum Nachdruck [] Den Parteien zum Vorlesen in Versammlungen [] Den Mitgliedern des DGB zur Diskussion [] Walter Freitag [] Demokrat oder Demagoge [] ? [] Diese Frage mag hart erscheinen; sie ist aber für die Gesamtheit zu wichtig, als daß man sie durch Umschreibung abschwächen dürfte. [] Herr Freitag führt den Deutschen Gewerkschaftsbund (DGB), dessen über 6 Millionen Mitglieder alle Zweige der Wirtschaft durchdringen. Auf diese Organisation wollen die Sowjets durch kommunistische Unterwanderung Einfluß gewinnen. Gelänge dies, würden sie nach bewährter Methode Forderungen anregen, die sich bis zur Unerfüllbarkeit steigern. Es folgen zwangsläufig Streiks, Lähmung der Produktion, soziales Elend; damit wäre dem Bolschewismus der Weg bereitet. [] Ohne Mithilfe des DGB ist die Bundesrepublik auf diese Weise nicht mattzusetzen. Die Haltung der DGB-Führung ist mithin keine interne Angelegenheit des DGB, sondern eine Lebensfrage für Deutschland und die freie Welt. Der Einwand, hier werde eine Einmischung in die inneren Angelegenheiten des DGB unternommen, kann also nicht gelten. [] Vorerst muß der Begriff [] Demokratie [] erläutert werden: In unverfälschtem Sinne drückt er die Sehnsucht der Völker nach Selbstbestimmung aus. Er ist zugleich der Protest gegen die Vergewaltigung des Menschen durch den Menschen, mag dieser als Despot oder als eine machtausübende Minderheit auftreten. Frei von weltanschaulichem Zwang, steht Meinung gleichberechtigt neben Meinung. [] Ein Zusammenleben dieser Art ist nur möglich, wenn jeder bereit ist, persönliche Ziele zurückzustellen, sobald das Wohl der Gesamtheit es erfordert. Leitstern dabei ist kein verschwommener Idealismus, sondern die nüchterne Einsicht, daß der Bestand der Gesamtheit dem Einzelnen und der Gruppe erst Sicherheit gibt. [] Vollendet ist eine Demokratie erst, wenn jeder Bürger aus eigener Verantwortung am politischen Geschehen gestaltend mitwirkt. Solange noch die Bequemlichkeit des Nurgehorchens gesucht und amtlich gefördert wird; solange sich nicht jeder als Träger des Staates fühlt; solange erwachsene Menschen bereit sind, sich die Mitverantwortung für das gemeinsame Geschick abnehmen zu lassen bleibt die Demokratie fragwürdig. [] Eine Hauptregel der Demokratie ist, die Rechte des politischen Gegners wie eigene Rechte zu achten. Nur wer diese Reife erlangt, kann gemeinschaftsfördernd, d. h. staatlich aufbauend wirken. Anmaßendes Auftreten nimmt selbst berechtigten Forderungen die Gültigkeit, weil es die ungeschriebenen Gesetze des Gemeinschaftslebens verletzt. [] Man sieht, daß Demokratie die würdigste Form menschlichen Zusammenlebens ist. Sie läßt sich deshalb aber auch am schwersten verwirklichen. Das Volk, das sein Geschick mitbestimmen soll, besteht aus einzelnen Menschen, die ohne überparteiliche Unterrichtung dem vielfältigen Meinungsstreit ratlos zuhören, und schließlich aus innerer Unsicherheit vorgeben, sich für Politik nicht zu interessieren. Andere schließen sich einer Partei an und lassen deren Führer für sich denken und handeln. Die einzige demokratische Tat ist die gelegentliche Ausfüllung eines Wahlzettels. Danach warten alle wieder ergeben, was geschehen werde. [] Diese Unmündigkeit des Volkswillens zeigt, worum es beim Aufbau einer Demokratie geht: [] Persönlichkeiten zu finden, die genügend Charakterstärke und innere Größe haben, der Versuchung nach persönlichem Machtstreben zu widerstehen und in den Herzen der Menschen, die der Staatsautorität noch stumpf ergeben sind, das demokratische Selbstbewußtsein durch Belehrung im Geiste strengster Wahrhaftigkeit zu erwecken. Männer, die nur ihrer Organisation dienen und gegen andere Belange blind sind, machen die menschliche Gesellschaft zum Kampfplatz selbstsüchtiger Interessen. Sie sind den Anforderungen, die der demokratische Staat an sie stellt, nicht gewachsen. [] Was kennzeichnet hiernach den Demokraten? [] Er vertritt auch innerhalb einer Partei stets die höhere Lebenseinheit, denkt also in richtigen Fragen staats- und nicht parteipolitisch. [] Er duldet nicht, daß ein Mensch - und wäre es ein politischer Gegner - fremdem Willen unterworfen wird, weil schon eine Ausnahme das Rechtsgefühl der Gemeinschaft irritiert. [] Er entsagt der politischen Lüge - in welchem Gewande sie immer auftreten mag - weil sie die größte Sünde gegen die Demokratie ist, indem sie verhindert, daß das Volk die Zusammenhänge erkennt, in seinem Urteil reift und den Mut zur Verantwortung findet. [] Er wacht unnachsichtig darüber, daß nicht im Schutze der Freiheit, die der demokratische Staat seinen Bürgern gewährt, die Zerstörung der Demokratie betrieben wird. Freiheit für die persönliche Meinung, nicht aber Freibrief für den Stumpfsinn des totalen Gehorsams! [] Damit ist die demokratische Geisteshaltung umrissen. Jede Person des öffentlichen Lebens auch Herr Freitag - muß es sich gefallen lassen, an diesem Maßstab gemessen zu werden. Untersuchen wir also die folgenden vier Fragen: [] 1. Denkt Herr Freitag staats- oder parteipolitisch? [] Die Frage könnte auch so lauten: Sucht Herr Freitag den DGB in das Ganze einzuordnen oder das Ganze nach dem DGB auszurichten? Den DGB in das Ganze einzuordnen hieße, nichts zu tun und nichts zu unterlassen, was Staat und Volk gefährdet. [] Herr Freitag hat aber vor der Wahl dem künftigen Bundestag den Kampf angesagt, wenn der Bundestag den Erwartungen der DGB-Führung nicht entspräche. Daß der Bundestag vom Volk gewählt wird, die Kampfandrohung sich also gegen den Volkswillen richtet und die Sowjets in ihren Zielen unterstützt, hat Herr Freitag nicht bedacht. Mag er unter dem Eindruck des Wahlergebnisses sein Vorhaben nicht mehr für ratsam hallen, so bleibt doch die Absicht unverkennbar, das Ganze nach dem DGB auszurichten. [] Herr Freitag hat ferner den DGB, obwohl dessen Satzung den Mitgliedern parteipolitische Neutralität verbürgt, in die Bahnen seiner persönlichen Parteibindung gelenkt. Hierfür zeugen der Wahlaufruf und die Solidaritätserklärung des Herrn Vorsitzenden der sozialdemokratischen Partei Deutschlands. Die Organisation des DGB wurde also dazu benutzt, andersdenkenden Mitgliedern eine ihnen nicht genehme Richtung aufzuzwingen. Wer die hierdurch entstandene Beunruhigung unseres öffentlichen Lebens und die schürende Publizistik der Sowjetpresse beobachtet, kommt leider zu der Überzeugung, daß Herr Freitag bei seinen Unternehmungen nicht von staatspolitischen Erwägungen geleitet wird. [] 2. Kämpft Herr Freitag für die Menschenrechte oder um die Macht? [] Die Gewerkschaftsbewegung hat eine große sozial- und kulturpolitische Leistung vollbracht. Sie hat zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer das Gleichgewicht hergestellt und dadurch den Demokratien der Neuzeit erst ein sicheres Fundament gegeben. Mit dern Erreichen dieses Zieles hat sich die Aufgabe aber gewandelt. Es gilt nun, das Gleichgewicht sowohl gegen die Unternehmer als auch gegen die Anmaßung kurzsichtiger Gewerkschaftsfunktionäre zu verteidigen; denn auch ein Übergewicht der Gewerkschaften würde den Arbeitnehmer wieder fremder Willkür aussetzen, nun der des Funktionärs. Daß die Abhängigkeit vom Funktionär gegenüber der vom Unternehmer keinen Vorteil bedeutet, zeigt die Entwicklung im sowjetischen Machtbereich, wo der Funktionär nur noch die Ausbeutung des Arbeitnehmers beaufsichtigt. [] Gebt einem Menschen unbeschränkte Macht, und er wird sie mißbrauchen! Dies scheint ein ewig gültiges Gesetz zu sein. Deshalb muß in einer demokratischen Gemeinschaft jede Kraft ein Gegengewicht haben. Wer das Übergewicht erstrebt, wird in der Diktatur enden. [] Was Herr Freitag fordert, würde dem DGB die absolute Macht in der Wirtschaft sichern. Da die Wirtschaft den Staat trägt, wäre der DGB der entscheidende Machtfaktor im Staat. Damit ist aber der wirkliche Zustand noch nicht gekennzeichnet. Der DGB besteht aus über 6 Millionen beitragszahlenden Mitgliedern, die sich der Führung des gehobenen Funktionärkorps anvertrauen. Letzteres tritt jedoch auffällig oft "einstimmig" für die Maßnahmen der DGB-Führung ein. Es hat auch den von den Kommunisten lebhaft begrüßten Wahlaufruf "einstimmig" bejaht. Einstimmige Entscheidungen verraten einen totalitären Geist. In einer demokratischen Gemeinschaft wird Einstimmigkeit meist nur in lebenswichtigen Fragen erzielt. Hier ging es aber um einen Wahlaufruf, der (vgl. Frage 3) die Öffentlichkeit irreführen sollte. Daß dies von etwa 450 Funktionären kein einziger erkannt haben sollte, wird niemand behaupten können, ohne zugleich dem gesamten Funktionärkorps jedes politische Urteilsvermögen abzusprechen. Wenn der Wahlaufruf dennoch in Essen einstimmig gebilligt wurde, so ist dies ein Zeichen dafür, daß die Funktionäre sich nicht mehr frei genug fühlen, demokratisch abzustimmen. Was folgt daraus? Die totale Macht des DGB im Staate wäre die totale Macht des DGB -Vorsitzenden. Gebt einem Menschen unbeschränkte Macht ...! [] 3. Wie unterrichtet Herr Freitag die Öffentlichkeit? [] Vergegenwärtigen wir uns in großen Zügen die Lage Deutschlands seit Kriegsende: Ostgebiete jenseits Oder und Neiße polnischer Herrschaft unterstellt. 18 Millionen Menschen im Gebiet zwischen Oder und Elbe leisten Zwangsarbeit für die Sowjetunion. Westdeutschland nach Demontage der Industrie-Anlagen im Aufbau. Hierbei belastet mit der Versorgung von 12 Millionen Rentnern und einem nicht abreißenden Zustrom von Flüchtlingen aus dem Ostgebiet. Man spricht von Flüchtlingen, während es sich um eine von den Sowjets erzwungene, geschichtlich beispiellose Völkerwanderung handelt. Unbarmherziger Druck soll die Bevölkerung der Ostzone gefügig machen. Widerstrebende werden, durch physische Vernichtung bedroht, in das übervölkerte Westgebiet gepreßt. Ein ebenso groß angelegter wie zynischer Plan: Die Lebensenge soll Haß, der Haß Chaos, das Chaos den Bolschewismus mit Ausstrahlungen bis in die letzten Zipfel Westeuropas erzeugen. 10 Millionen dieser Entwurzelten haben bisher in der Bundesrepublik Aufnahme gefunden. Mehr als eine Viertelmillion Menschen aus der Ostzone sind seit Anfang 1953 nach Westberlin geflüchtet. Die Aufgabe, ihnen Unterkunft, Nahrung und schließlich in unserem schon überfüllten Lebensraum einen Arbeitsplatz zu geben, ist nur zu lösen, wenn alle Deutschen eine disziplinierte Schicksalsgemeinschaft bilden. [] Herr Freitag aber unterschreibt einen Wahlaufruf, in dem aufgezählt wird, was der DGB gefordert und die Regierung nicht erfüllt habe: Vollbeschäftigung, mehr Wohnungen, höheren Lebensstandard usw. "Im Vergleich zu andern Ländern der freien Welt ist das Leben bei uns zu teuer," wird darin festgestellt. Kein Wort für unsere besonderen Probleme. Kein Wort für das, was über alles Erwarten hinaus seit 1949 auf allen Gebieten erreicht worden ist. Im Lexikon für Politik ist der Begriff "Demagogie" wie folgt erklärt: "Volksverführung durch Phrasen, ... überhaupt durch oberflächliche, logisch nicht haltbare Argumente ..." [] 4. Ist Herr Freitag für oder gegen die Verteidigung der Freiheit? [] Im politischen Leben zählt nicht das, was man zu erreichen sucht, sondern das, was man erreicht. Auf keinem anderen Gebiet haben Fehlschlüsse ähnlich tragische Folgen. [] Herr Freitag tritt als Anwalt der arbeitenden Menschen auf. Deren Rechte sind aber in unserer Epoche hauptsächlich durch die Sowjets bedroht. Dieser Gefahr gleicht keine andere, wie das verzweifelte Aufbegehren der deutschen Arbeiter in der Ostzone am 17. Juni 1953 gezeigt hat. Wer den westdeutschen Arbeiter vor gleichem Schicksal bewahren will, wird sich vor jedem Entschluß fragen müssen. Nütze ich damit den Sowjets oder der freien Welt? [] Ein Gewerkschaftsführer nützt den Sowjets, wenn er Forderungen stellt, ohne sich zu fragen, was bei der gegenwärtigen Lage Deutschlands möglich ist; denn unzeitgemäße Forderungen beunruhigen die im Aufbau befindliche Wirtschaft, verliefen die Gegensätze zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer und beschwören die Streikgefahr. Alles aber, was die Volkskraft schwächt, stärkt die Eroberungslust der Sowjets, trifft also am Ende den westdeutschen Arbeiter. [] Herr Freitag hat auf dem am 4. Juli 1953 in Stockholm eröffneten 3. Weltkongreß des Internationalen Bundes Freier Gewerkschaften u. a. folgende Worte gesprochen: [] "Ein Volk, das seine Freiheit will, ist bereit, für sie sein Leben einzusetzen, und erringt diese Freiheit auch gegen Gewaltanwendung. Der Deutsche Gewerkschaftsbund wird alles tun, um in den Westzonen diejenigen zu stärken, die bereit sind, für ihre Freiheit zu kämpfen." [] In der kurz danach vom DGB-Bundesvorstand herausgegebenen Wahlillustrierten lautete jedoch die Parole: "Gesunde Wohnungen und gute Schulen sind besser als Kasernen." Das trifft zu, wenn ein Volk unbedroht ist. In unserer Lage besagt jene Parole: "Gesunde Wohnungen ... sind besser als die Verteidigung der Freiheit!' Die Sowjets werden diese Parole begrüßen. Das Freiheitsbekenntnis von Stockholm aber ist entwertet. [] Man könnte einwenden, Herr Freitag habe für den Inhalt der Wahlillustrierten nicht verantwortlich gezeichnet. Keine Organisation vergibt einen Millionenauftrag, ohne daß der Vorsitzende ihn in allen Teilen kennt und billigt. Wir müssen uns davor hüten, verantwortliche Männer in die Anonymität ihrer Organisation zu entlassen. Sie bestimmen die Richtung, nicht der Organisationsapparat, den sie lenken, und sie sind, wie das Beispiel der Sowjets zeigt, am gefährlichsten, wenn sie ihre persönliche Verantwortung mit demokratischer Geste einem anonymen Organisationsapparat überlassen. [] Dieser Täuschung dürfen wir nicht erliegen. Deshalb alle Augen auf den 1. Vorsitzenden des DGB! Er muß, wenn der DGB nicht zum Brückenkopf der Sowjets im Bundesgebiet werden soll, ein Demokrat im unverfälschten Sinne dieses Wortes sein. Das ist ein Anliegen aller Deutschen in Ost und West, und jeder Deutsche wäge. Er wägt sein eigenes Schicksal. [] BERNHARD KOESTER [] BERLIN W 30, POSTSCHLIESSFACH 11 [] Der Verfasser gehört keiner Partei an. Hinter ihm steht keine Organisation. Er tritt unter persönlichen Opfern für ein politisch reifes, menschenwürdiges Leben in Freiheit ein. Aber seine Kraft allein reicht nicht aus. Helfen Sie deshalb alle mit, seine Aufrufe in ganz Deutschland zu verbreiten! - Jeder ist ermächtigt, diesen Aufruf ungekürzt nachzudrucken oder zu vervielfältigen. [] Oktober 1953
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