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Summary:Bemerkungen: [] = Absatzmarken im Volltext des Originals; Flugblatt ist auf Papier aufgeklebt<NZ>Lochung Sozialdemokraten, [] Freunde und Anhänger der SPD! [] Soweit ist es also mit und in unserer Sozialdemokratischen Partei gekommen: [] Tausende und Abertausende sozialdemokratische Wähler und Anhänger haben am 9. Juli durch ihre Nichtbeteiligung an der Wahl, durch Abgabe ungültiger Stimmzettel oder durch ein entschlossenes "Nein" - trotz des gegenteiligen Aufrufes unserer Bezirksvorstände - gegen die von Hilpert und Euler gewünschte Verfassungsänderung gestimmt. Sie hatten aus den bitteren Lehren von Kulmbach, Nordrhein-Westfalen und Schleswig-Holstein gelernt und sich gegen die Einführung des Mehrheitswahlsystems ausgesprochen. Selbst der Genosse Willi Knothe mußte in seinem Artikel in der "Volksstimme" zugeben, daß der Widerstand in unserer Mitgliedschaft in den Distriktversammlungen gegen das erneute Nachgeben von Stock, Zinnkann und Wagner gegenüber den Vertretern der Banken und Industrie- und Handelskammern ungeheuer groß war. Und trotzdem wagt es die hessische Regierung, mit Christian Stock als Ministerpräsident, uns allen, die wir die große Gefahr in der Einführung des Mehrheitswahlsystems sehen, ein Wahlgesetz vorzulegen, das uns allen ins Gesicht schlägt. Sie wagt es - sich auf die verschwindende Minderheit von nur 24% getäuschter Jasager vom 9. Juli 1950 stützend - gegen 76% direkte bezw. indirekte Neinstimmen und gegen den Beschluß des Mühlheimer Parteitags dem hessischen Volk das Bonner Wahlunrecht zu oktroyieren. [] Wer bestimmt denn eigentlich die Politik in unserer Partei? [] Nicht minder groß ist die Empörung in unserer Partei und unserer Anhängerschaft über das unglaubliche Verhalten des "Genossen" Albert Wagner. Albert Wagner, dessen Vergangenheit während der Nazizeit alles andere als einwandfrei ist, darf es sich erlauben, in Höchst antisemitische Äußerungen zu machen, darf es sich erlauben, der Direktion der Höchster Farbwerke vorzuschlagen, Arbeiter zu entlassen. Derselbe "Genosse" Albert Wagner darf es sich auch erlauben, der Brotpreiserhöhung zuzustimmen und für die Ausgabe des berüchtigten "Bonner Konsumbrotes" einzutreten. Unsere Bezirksvorstände bringen den seltenen Mut auf, angesichts der Empörung unserer Mitgliedschaft, gegen Herrn Wagner Stellung zu nehmen und seinen Rücktritt zu fordern. Und was geschieht? Herr Doktor Hilpert, der Vorsitzende der hessischen CDU, wahrlich bei allen Genossen sattsam bekannt als der raffinierte Regierungseinpeitscher der hessischen Industriekreise, stellt praktisch ein Ultimatum: Entweder bleibt Albert Wagner, der Günstling der CDU, oder die Regierungskoalition geht in die Brüche! Und was tun unsere tapferen Bezirksvorstände? Sie erklären zwar die Haltung Albert Wagners für falsch, überlassen jedoch die Entscheidung der Landtagsfraktion. [] Wahrlich, man wird nicht behaupten können, daß politische Konsequenz jemals eine Eigenschaft unserer Führung gewesen wäre. [] Glaubt denn auch nur ein einziger unserer Genossen, daß Heinrich Fischer, der neue Ministerialbeamte in Wagners Ministerium, der sich in Hanau gegen die Erhöhung der Löhne aussprach, oder daß Bodenbender, ein enger Freund des CDU-Fraktionsvorsitzenden Stieler, sich gegen das diktatorische Verlangen der CDU-Führung zu Wehr setzen werden? [] Genossen, wir erleben es, daß unsere Fraktion einiger Regierungssitze wegen den von der überwiegenden Mehrheit unserer Parteimitglieder und Parteianhänger so gehaßten Wagner weiterhin duldet, nur weil Herr Hilpert es will. Darüber kann auch der nur zur Beruhigung und zur Täuschung unserer Mitglieder geschriebene Brief von Christian Stock niemanden hinwegtäuschen. [] Und nicht minder bestürzt sind viele unserer Parteimitglieder und -Anhänger über das Verhalten von Heinrich Zinnkann: Genossen, überlegt: Kurz bevor Hitler an die Macht kam, schlug die Reaktion gegen die Arbeiterbewegung, erst gegen die Kommunistische Partei und dann gegen unsere Partei, erst wurde die Kommunistische Presse verboten, dann kam unsere dran. Was daraus geworden ist, wißt Ihr alle. [] Und heute? [] Damals sagten unsere kommunistischen Genossen: Wir steuern auf den Krieg hin - und es kam so. Es kam so, weil wir nicht einig waren. Heute wird die kommunistische Presse verboten, beschlagnahmt man ihre Flugblätter, verhaftet ihre führenden Funktionäre, und was kann das Ende sein? Genau so wie damals: der Krieg. Und genau so wie damals geben sich unsere "Führer" dazu her, diesem Anschlag auf die Arbeiterschaft, also auch auf uns Sozialdemokraten, Hilfsdienste zu leisten. Wäre es nicht so bitterer und könnte es nicht so blutiger Ernst werden, dann könnte man der bissigen Ironie eines unserer Funktionäre zustimmen, der sich äußerte: "Unsere Führer haben es immer glänzend verstanden, aufs falsche Pferd zu setzen. Jetzt setzen sie wieder auf einen Klepper, der kurz vor dem Zusammenbrechen nochmals frisiert wird, mit Atommuskeln protzt, aber überall dort, wo die Völker selbstbewußt und in ihrem Freiheitsdrang sich zur Wehr setzen, in die Flucht getrieben wird." [] Am 20. August werden in Frankfurts Mauern die Vertreter der Sozialdemokratischen Parteien der anderen Länder zusammentreten. Würde diese Tagung einen ehrlichen Rechenschaftsbericht ablegen, dann gäbe es nur eine einzige Bilanz: der Einfluß der Sozialdemokratischen Partei, ob in Italien, in Frankreich oder anderwärts, geht fortgesetzt zurück. Kein Wunder, wer den Boden des Marxismus verlassen hat, wer dem Opportunismus huldigt, ist von der Geschichte zum Untergang verurteilt. Genossen, diese Frage steht vor uns allen: Sollen wir offenen Auges auf unseren eigenen Untergang, auf die Vernichtung unserer Partei durch die falsche Politik unserer Führung hinsteuern? Das können wir nicht, wenn wir uns nicht selbst aufgeben wollen. [] Zivilcourage, Mut und Entschlossenheit Genossen! [] Wir schlagen Euch vor, überall sofort Kreis- und Unterbezirkskonferenzen zu verlangen. Wenn die "Führung" sie unterbinden will, dann müssen wir selbst handeln. Unser aller Forderungen müssen sein: [] 1. Das Mehrheitswahlsystem muß abgelehnt werden. Im Landtag gibt es eine Mehrheit SPD und KPD. Wenn wir gemeinsam und entschlossen auftreten, muß es möglich sein, daß von dieser Mehrheit in dem jetzt im Landtag stehenden Wahlgesetz das Verhältniswahlrecht verankert wird. [] 2. Weg mit der Koalitionspolitik! Weg mit Stock, Zinnkann und Wagner! Weg mit den schwankenden Genossen in den Bezirksvorständen! [] Zurück zur Politik der alten Sozialdemokratie, zur Politik von Marx, Engels und Bebel! [] Reißen wir alle Schranken ein und schließen wir ein festes Bündnis der gesamten Arbeiterklasse, um der riesengroßen Kriegsgefahr entgegenzutreten. [] Genossen, es gilt zu handeln, ehe es zu spät ist. [] Vorwärts Sozialdemokraten! [] Sozialdemokratische Aktion [] Landesrat Hessen [] i. A. F. A. Klug (Vorsitzender) [] Verantwortlich: F. A. Klug, Zellhausen/Hessen. - Druck: Westdeutsche Druckerei- und Verlags-Gesellschaft m. b. H., Frankfurt a. M.
Published:07.1950