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warum [] Professor Dr. Carlo Schmid [] Geboren am 3. Dezember 1896 in Perpignan (Südfrankreich). Studium der Rechte, Gründer des SDS in Tübingen. 1929 Dozent für Völkerrecht. 1945 Universitätsprofessor in Tübingen; SPD-Vorsitzender in Süd-Württemberg. 1946 Präsident des Staatssekretariats für die französisch besetzte Zone von Württemberg und Hohenzollern. 1947 Mitglied des Parteivorstandes. 1947 - 1950 Justizminister und Stellv. Staatspräsident von Württemberg-Hohenzollern. 1948/49 Vorsitzender der SPD-Fraktion und des Hauptausschusses im Parlamentarischen Rat. 1949 bis 1966 Vizepräsident des Bundestages. Seit 1953 Ordinarius für Politische Wissenschaften in Frankfurt. 1958 Mitglied des Parteipräsidiums. 1966 Bundesminister für Angelegenheiten des Bundesrates und der Län der. [] ... bin ich Sozialdemokrat [] Diese Frage wird mir oft gestellt, und manchmal höre ich deutlich die Verwunderung heraus - nicht nur darüber, daß ich Sozialdemokrat bin, sondern auch über die Tatsache, daß ich mich als Wissenschaftler überhaupt aktiv in einer Partei und in der Politik betätige. [] Wer die Politik anderen überläßt, der gibt sein eigenes Schicksal in fremde Hände! Wenn ich das sage, dann spreche ich aus eigener bitterer Erfahrung. Denn ich selbst habe in jüngeren Jahren geglaubt, daß man von der Politik besser die Finger läßt, weil man sie sich dabei leicht schmutzig macht. Selbstverständlich habe ich damals, zur Zeit der Weimarer Republik, mit meinen Freunden oft leidenschaftlich über politische Fragen diskutiert. Natürlich habe ich damals auch immer gewählt (SPD, um es offen zu sagen). Aber damit erschöpfte sich meine politische Aktivität. [] Doch plötzlich war das Dritte Reich da, und ich stellte mir die Frage: Wer ist nun eigentlich schuld daran, daß die Nazis an die Kommandohebel der Macht gekommen sind? Wer ist verantwortlich dafür, daß ein Regime der Unmenschlichkeit in unserem Land errichtet werden konnte? Als ich darüber nachdachte, wurde mir klar, daß ich der Schuldige war - und mit mir alle Menschen guten Willens, die abseits gestanden hatten, während es um das Schicksal unseres Vaterlandes ging. Es wäre, das erkannte ich, meine Pflicht gewesen, in die politische Arena zu steigen und jenen Leuten den Weg zur Macht zu verstellen, die das Unheil über Deutschland brachten. Den Weg verstellen aber kann man nicht allein mit Meinungen und schönen Worten. Wenn man Wirkung haben will, dann muß man in der Gemeinschaft von Gleichgesinnten sein - in einer Partei. [] Ich entschloß mich daher, gleich nach diesen furchtbaren NS-Jahren in eine politische Partei einzutreten. Warum aber bin ich Sozialdemokrat geworden? [] Nun, diese Partei ist der großen Idee der Menschlichkeit und der Toleranz seit ihrer Gründung ganz besonders verpflichtet. Ich bin es auch. Für diese Partei sind Freiheit, Gleichheit und Gerechtigkeit nicht nur Schlagworte, sondern sie will diese Grundwerte der Liberalität im Alltag verwirklichen. Das will auch ich. Die SPD kämpft dafür, daß alle Menschen, ganz gleich aus welchen Verhältnissen sie stammen, die gleichen Bildungs-Chancen haben sollen. Das ist auch mein Ziel. Diese Partei will einen modernen, auf die Zukunft gerichteten Staat, der von unten bis oben vom Geist der Demokratie und der Toleranz beherrscht wird. Das will auch ich - und darum bin ich Sozialdemokrat. [] Lassen Sie mich nach diesen Grundsätzen auch die Praxis der sozialdemokratischen Politik an einigen Beispielen erläutern, die mir in meinem derzeitigen Wirkungsbereich besonders nahestehen. Vielleicht wissen Sie, daß ich der erste Regierungschef des Landes Württemberg-Hohenzollern war. Seitdem beschäftige ich mich mit der Aufgabenverteilung zwischen Bund, Ländern und Gemeinden. [] Wir Sozialdemokraten meinen, daß für die Gemeinden in Zukunft mehr getan werden muß als bisher. Denn hier in den Gemeinden liegt die breite Basis der Demokratie. Hier sieht der einzelne Bürger die Gemeinschaftsaufgaben noch ganz konkret vor sich, kann ihre Dringlichkeit abwägen und über ihre Durchführung entscheiden. Krankenhäuser, Schulen, Straßen, Verkehrsmittel, Sportanlagen - sie alle bestimmen das Leben des Bürgers oft mehr als viele Dinge, die vom Staat ausgehen. Wir Sozialdemokraten werden also bei der kommenden Bundesfinanzreform darauf achten, daß die Gemeinden in Zukunft ihre demokratischen Aufgaben besser erfüllen können. [] Als Chef einer Landesregierung war ich natürlich Föderalist, also Anhänger des Bundesstaates im Gegensatz zum zentralistischen Staat. Ich bin auch heute noch Föderalist. Es ist gut, daß es Länder gibt, sozusagen Staaten mit einer beschränkten Reichweite, deren Probleme auch vom Bürger noch konkret erkannt werden können. [] Durch die Finanzreform wollen wir zur finanziellen Gesundung von Bund, Ländern und Gemeinden beitragen. Auf keinen Fall soll damit die bundesstaatliche Ordnung angetastet werden. Ich bin sogar der Meinung, daß man sich bei jenen Dingen, die nun einmal auf Bundesebene zentral geregelt werden müssen, auf die Gesetzgebung beschränken sollte. Vor uns liegen also allein auf dem Gebiet der innerstaatlichen Organisation viele wichtige Aufgaben, die jeden von uns in ihren Auswirkungen betreffen. Denn wenn diese Aufgaben in einem fortschrittlichen Geist gelöst werden, dann wird sich das auch auf das Bildungswesen, die Steuern und die Stabilität der Wirtschaft auswirken. Allerdings sind dazu einige Grundgesetzänderungen notwendig. Aber es ist Unsinn, wenn manche Leute behaupten, dadurch würde das Grundgesetz ausgehöhlt. Ich selbst bin einer der "Väter" des Grundgesetzes, war Fraktionsvorsitzender im Parlamentarischen Rat. Viele wichtige Bestimmungen dieser provisorischen Verfassung sind auf Initiative der Sozialdemokraten zurückzuführen. Wir würden jeden Versuch, das Grundgesetz "auszuhöhlen", verhindern. Denn es hat sich als Ganzes durchaus bewährt. Aber natürlich waren wir keine Propheten, als wir es schufen. [] Hätte ich heute noch einmal über das Grundgesetz zu beraten, dann würde ich versuchen, in den Fragen der Bildung und der Ausbildung weiter zu gehen. Damals war dafür leider keine Mehrheit zu finden. Aber damals ahnten die Länder auch noch nicht, was heute auf dem Gebiet der "Kulturhoheit" auf sie zurollt. So stehen sie jetzt plötzlich vor der Notwendigkeit, Universitäten zu errichten. Jede von ihnen kostet Milliarden - und dabei handelt es sich um Ausgaben, die unbedingt notwendig sind, denn wenn wir nicht endlich Universitäten, technische Hochschulen und Fachschulen bauen, dann fehlen uns in zehn, zwanzig Jahren jene qualifizierten Fachleute und Wissenschaftler, die unsere Wettbewerbsfähigkeit auf dem Weltmarkt sichern. Aber woher sollen die Länder das Geld nehmen, um den drängenden Bildungssorgen gerecht zu werden? Auch hier muß die Finanzreform endlich Klarheit schaffen. Zu viel ist auch hier für meinen Geschmack von den bisherigen Bundesregierungen versäumt worden. [] Ich selbst stehe heute als Bundesminister für Angelegenheiten des Bundesrates und der Län der vor der reizvollen und wichtigen Aufgabe, zwischen Bund und Ländern in diesen komplizierten und folgenreichen Fragen zu vermitteln. Den Ruf, in die Regierung einzutreten, erhielt ich wenige Tage vor meinem 70. Geburtstag. Ich habe mich zunächst gesträubt. Wenn man so alt wie ich ist, dann will man nicht mehr "etwas werden". Ich gab auch nicht gern meinen Sitz im Präsidium des Bundestages auf, den ich 17 Jahre innehatte. Und zusätzlich hielt ich es für besser, wenn jüngere Parteifreunde von mir in den Vordergrund traten, Männer, die noch 20 oder 30 Jahre im politischen Leben vor sich haben. Doch meine Freunde glaubten, daß meine Stimme auch im Kabinett zur Geltung kommen sollte - und so habe ich mich zur Verfügung gestellt. Als Staatsbürger kann ich eben nicht nur Forderungen an den Staat stellen. Ich habe auch Pflichten. [] Wie Sie wissen, gehöre ich einer Regierung der Großen Koalition an. Es hat in der Öffentlichkeit erregte Diskussionen darüber gegeben, ob diese Koalition wirklich notwendig war. Doch wir werden in den kommenden Jahren vor sehr harte innen- und außenpolitische Entscheidungen gestellt werden. Da bleibt einfach nichts anderes übrig, als daß die beiden großen Parteien im Bundestag zusammengehen - und auch gemeinsam die Verantwortung für diese schweren Entscheidungen tragen. [] Alle unsere Bemühungen aber können nur von Erfolg sein, wenn wir dabei von den Bürgern tatkräftig unterstützt werden. Wir Sozialdemokraten kämpfen seit über hundert Jahren gegen den Untertanengeist. Unser Leitbild ist der freie Bürger. Aber frei ist man noch nicht, wenn man in Ruhe gelassen wird. Wirklich frei ist man erst, wenn man nicht einfach hinnehmen muß, was andere "da oben" über einen beschließen, sondern wenn man selbst aktiv daran mitarbeitet, wie die Zukunft aussieht. [] Und weil ich alles tun will, was in meinen Kräften steht, daß unsere Gesellschaft in den nächsten Jahren und Jahrzehnten offener und toleranter wird, und daß sie bei gleichen Fähigkeiten jedem die gleichen Chancen zum Vorwärtskommen bietet - darum bin ich Sozialdemokrat. Und Sie? [] Ihr Carlo Schmid [] Herausgeber: Vorstand der SPD, Bonn [] [Bildunterschrift:] [] Empfang des madagassischen Innenministers André Resampa durch den Vorstand der SPD
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