An die Gebildeten der deutschen Nation

An die Gebildeten der deutschen Nation! Der 9. November 1918, der Tag der Revolution, war für das deutsche Volk ein großer und ruhmreicher Tag. Er verwirklichte die Sehnsucht, die seit den großen Tagen seiner idealistischen Philosophie und Dichtung den Geist der Nation in seinem tiefsteil Wollen erf...

Full description

Bibliographic Details
Main Author: Metzger, Arnold
Institution:Archiv der sozialen Demokratie (AdsD)
Format: IMAGE
Language:German
Published: 11.1918
Subjects:
Online Access:http://hdl.handle.net/11088/C8AE17C2-15C8-4903-B05C-DFECC76DAE05
Description
Summary:An die Gebildeten der deutschen Nation! Der 9. November 1918, der Tag der Revolution, war für das deutsche Volk ein großer und ruhmreicher Tag. Er verwirklichte die Sehnsucht, die seit den großen Tagen seiner idealistischen Philosophie und Dichtung den Geist der Nation in seinem tiefsteil Wollen erfüllte: das nationale Schicksal in freiem Willen, in freier Selbstgesetzgebung zu gestalten. Der Drang nach Freiheit, die Sehnsucht nach einer Existenz, die aus dem freien Willen des Volkes nach dessen eigenem Gesetz und eigener Vernunft geboren wird, sind die wesentlichen Kennzeichen deutscher Kultur und Geschichte. Nie, während der langen Dauer seiner Geschichte, war unser Volk größer und schicksalhafter als in den Tagen, in denen es, sich gegen den äußeren Zwang auflehnend, anstelle einer bald in dieser bald in jener Form auftretenden Herrschaft von außen seine Selbstbestimmung setzte. Seine größten Taten waren die Taten seiner Freiheit, waren die schöpferischen Protestrufe seiner glühenden, nach freier Entfaltung verlangenden Innerlichkeit gegen eine kirchliche, politische oder soziale Bevormundung, die aus ihr selbst nicht geboren war. Kein Volk wie das deutsche tritt so gründlich vorbereitet und so entschlossen vor die Aufgabe, seinem Leben eine neue aus seinem demokratischen Willen geborene Gestalt zu geben. Kein Volk hat für die Demokratie, das ist die Freiheit des Gewissens, so gründlich und so tief vorgearbeitet, wie das Volk, aus dessen Geiste Kant und Goethe geboren sind. Wer, der etwas von der Sehnsucht deutschen Lebens, seiner Kunst und Philosophie weiß, wagt es, an dem demokratischen Grundcharakter unseres Volkes zu zweifeln? Wer wagt es, daran zu zweifeln, daß sich unser Volk gegen jede ihm aufgezwungene Herrschaft auflehnt, sie mag sich nennen, wie sie wolle? Jede Diktatur, gleichgültig, in wessen Namen sie erfolgt, wird unter der Wucht seines demokratischen Willens zusammenbrechen, so sicher wie die napoleonische Herrschaft, der Absolutismus der vormärzlichen Autokratie und die starre Ordnung des eben untergegangenen Systems zusammenbrachen. Deutsche Männer und Frauen! Der 9. November 1918 bedeutet für das deutsche Volk den Beginn einer neuen und großen Zeit. Ungeahnte Energien, bisher unter dem Druck eines bureaukratischen Systems niedergehalten, sind freigeworden. Ungeahnte Aufgaben, zu denen das Leben des neugeborenen Volkes drängt, sind an uns herangetreten, Aufgaben, in denen der Geist des Volkes lebt, das soeben aus einem Kriege heimkehrt, in dem es Leistungen von einer Größe vollbracht hat wie kein Volk in der Geschichte. Unser Volk hat sein Schicksal in seine Hand genommen. Es ist dabei, sich eine Zukunft aufzurichten, sich eine Gesellschaftsordnung zu gestalten, an der der gemeinsame und tätige Wille Aller, Aller ohne Ausnahme, beteiligt ist. Hinter diesem Willen aber steht das gleiche Volk, aus dessen Geist seine großen Dichter und Denker, seine gewaltigen Leistungen in Technik und Industrie hervorgegangen sind. Begnadet von seiner großen kulturellen Vergangenheit, getragen von dem Glauben an seine große kulturelle Zukunft, ist das in den Nöten des vierjährigen Krieges verarmte, aber zur Freiheit und neuem Glauben erwachte Volk bereit, das Größte zu vollbringen: eine alte, Jahrhunderte lang getragene Gesellschaftsordnung abzuschütteln, um an deren Stelle eine neue, schönere Gemeinschaft zu gründen. An Euch, die Gebildeten der deutschen Nation, Bürger und Bürgerinnen, geht unser Ruf. Kein Deutscher darf heute zurückstehen, darf bei dem Aufbau eines deutschen Gemeinwesens untätig zusehen! In diesen schweren Tagen gibt es nur Eines: seine Liebe und seinen Willen an die gemeinsame Sache zu knüpfen, die Größe der Zeit zu begreifen, in der sich unser Volk, an die bedeutsamsten Traditionen seiner Vergangenheit anknüpfend, zu einer freien und liebenden Gemeinschaft zusammenfindet. Alle Vorurteile müssen fallen! Die Klassen und Stände, die sich bisher fremd und lieblos gegenüberstanden, müssen sich zu gemeinsamer Arbeit zusammenfinden! Niemand soll es mehr unternehmen, sich auf Grund einer "besseren" Abkunft oder materiell "besseren" Lage von anderen "weniger besseren" Ständen abzuschließen. Anstelle der bisherigen gegenseitigen Fremdheit der gesellschaftlichen Klassen muß die Gemeinschaft des Volkes treten, das tätige Zusammenwirken Aller an der gemeinsamen Sache! Alle Vorurteile müssen fallen! "Ein Reich des Rechts, gegründet auf Gleichheit alles dessen, was Menschenantlitz trägt" - dieser Satz Johann Gottlieb Fichtes ist das Leitwort der neuen Gemeinschaft. Keine Entrechtung und Vergewaltigung irgendeines Menschen wird sie unternehmen. Falsch und verhängnisvoll ist die Meinung, daß eine allgemeine Enteignung von Grund und Boden, eine Aufteilung des Vermögens, eine planlose Zugrunderichtung der bisherigen Einrichtungen vor sich gehe. Zerstreut diese irrigen Meinungen! Klärt im Kleinen und Großen auf, daß Sozialisierung nicht den Umsturz bedeutet, daß die Vergesellschaftung der Betriebe nicht übereilt und unsachlich, sondern von sachkundigen Männern geleitet, nur in Uebereinstimmung mit den Erfordernissen unserer Wirtschaft vorgenommen wird. An Euch liegt es, dem Volk die Ruhe und Sicherheit wieder zu geben, die es durch die Erschütterung der Revolution verloren hat. Ruhe, Arbeit und Ordnung sind die elementaren Grundlagen, auf denen allein der Aufbau erfolgen kann. Ihr sollt es wissen und es verbreiten, daß unser neues Gemeinwesen ein gerechtes sein wird, errichtet für das Glück und die Wohlfahrt Aller. Ihr sollt es wissen und es verbreiten, daß der neue Staat die Heimat eines freien und kulturschaffenden Menschentums sein wird, in dem das Bewußtsein einer edlen, idealistischen Tradition lebt. Bürger und Bürgerinnen! Es geht nicht nur um die Tatsache Eurer Mitarbeit, sondern noch mehr um den Geist dieser Mitarbeit. Das deutsche Volk braucht Mitarbeiter, weiche sich mit der Innigheit der Ueberzeugung für die neue republikanische Gemeinschaft einsetzen. Es geht um die deutsche Sache! Sie ist in Gefahr, wenn sich ihr die Intelligenz des Landes fernhält, wenn diese, die Bedeutung und den deutschen Charakter der neuen Bewegung verkennend, nicht die Entschlossenheit findet, mit dem Alten zu brechen und ihr Gewissen und ihre Kraft restlos der neuen Gemeinschaft zur Verfügung zu stellen. Es geht um die Weiterführung deutscher Gesittung und deutscher Arbeit! An Euch liegt es, daß sich die große Bewegung, die unser Volk erfaßt hat, zum Guten wendet, daß unser Volk das findet, was seine Sehnsucht ist: die Freiheit und die Gerechtigkeit eines menschenwürdigen Daseins. Dr. Arnold Metzger.
Published:11.1918